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Rom liegt nicht in Karlsruhe

Quelle: Prof. Dr. Michael Heese; rsw-beck.de

23.06.2022 Text gekürzt 
 

Das ver­meint­li­che Macht­wort des BGH, wo­nach in Die­sel­fäl­len eine Nut­zungs­ent­schä­di­gung den Scha­dens­er­satz­an­spruch des Käu­fers auf­zeh­ren könne, könn­te vom EuGH ge­kippt wer­den. Dafür plä­diert je­den­falls Ge­ne­ral­an­walt Atha­na­si­os Ran­tos in einem Schluss­an­trag (BeckRS 2022, 12232). Das wäre eine Zäsur in un­zäh­li­gen lau­fen­den Die­sel-Pro­zes­sen.

Mit seinem VW-Grundsatzurteil (NJW 2020, 1962) wollte der VI. Zivilsenat des BGH die Grundlagen der deliktischen Herstellerhaftung geklärt wissen: Eine Haftung komme überhaupt nur unter den hohen Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung (§ 826 BGB) in Betracht. Der Kaufpreisschaden könne im Wege der Vorteilsausgleichung – ggf. vollständig – durch eine aus dem vollen Kaufpreis errechnete Nutzungsentschädigung aufgezehrt werden.

 

Die an dem haftungsrechtlichen Nullsummenspiel geäußerte Kritik (vgl. Heese NJW 2020, 2779) wurde in Rechtsprechung und Literatur deutlich zurückgewiesen; von einem Machtwort aus Karlsruhe war die Rede: „Roma locuta, causa finita“ (Lorenz NJW 2020, 1924). Doch zeigt sich wieder einmal: Rom liegt nicht in Karlsruhe.

Das zugrunde liegende EU-Recht, so alle mit Dieselfällen betrauten BGH-Senate, sei „acte clair“, ein Vorabentscheidungsersuchen „nicht veranlasst“. Einen Einzelrichter am LG Ravensburg überzeugte das nicht; er legte vor. Schließlich war die richtige Aus­legung des Unionsrechts alles andere als „derart offenkundig, dass für einen vernünf­tigen Zweifel keinerlei Raum bleibt“ (vgl. EuGH NJW 2021, 3303). Der Generalanwalt hat am 2.6.2022 votiert und ließ eine Bombe platzen: Die einschlägige Verordnung schütze auch die individuellen Interessen der Käufer.

 

Die Festlegung der Art und Weise der Schadensberechnung sei zwar Sache der Mitgliedstaaten; die Haftung müsse aber abschrecken und dem Effektivitätsgebot angemessen Rechnung tragen. Eine den (Kaufpreis-)Schaden ausschließende Anrechnung der Nutzung sei mit dem Unionsrecht deshalb unvereinbar (vgl. BeckRS 2022, 12232). Im Klartext: Hersteller haften nach § 823 ­II BGB iVm EU-Recht bereits aufgrund einfacher Fahrlässigkeit, und die Vorteilsausgleichung wird – insbesondere auch bei den Leasing-Fällen – erheblich einzuschränken sein; die Hersteller müssen die Haftung (im Einzelfall) spüren!

Folgt der EuGH (erwartungsgemäß), erstreckt sich die deliktische Haftung auf weitere Hersteller und Fallgruppen („Thermofenster“, „Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung“ & Co., vgl. Heese NJW 2021, 887); letzter Strohhalm: der unvermeidbare Rechtsirrtum. Eine Zäsur in unzähligen laufenden Prozessen; auch eine neue Klagewelle scheint ­sicher.

 

Restschadensersatzansprüche von Neuwagenkäufern sind längst nicht verjährt (vgl. BGH NJW-RR 2022, 740). Für tausende rechtskräftig abgeschlossene Verfahren käme die Kehrtwende dagegen zu spät. Nur wer den Rechtsweg erschöpft und Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, kann auf Abhilfe hoffen. Die BGH-Senate haben im Sinne von BVerfGE 82, 159 (195 f.) ihren „Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten“. Die zu erwartende EuGH-Entscheidung hat durchaus das Potenzial, den ­Präventionsgedanken entgegen dem „Bereicherungsverbot“ grundlegender in der Dogmatik des deutschen Delikts- und Schadensrechts zu verankern. 

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